„Mein Reich ist mir zu klein geworden. Ich möchte es durch dein Fürstentum ein wenig abrunden und auch deine Hauptstadt Kiew in Besitz nehmen. Überlässt du mir dein Reich nicht freiwillig, so werde ich ein Heer aufbieten lassen und dich bezwingen.“ So droht der Tatarenkönig Kalin dem Fürsten Wolodymyr in der ukrainischen Geschichte von Ilja Muromez. Doch der bärenstarke Titelheld, der seine Kraft aus dem Heimatboden bezieht, bezwingt nicht nur diesen Aggressor und dessen Heer, sondern auch noch viele andere Gegner – und das nicht für Geld oder Ruhm: „Ich möchte nur allen jenen helfen, die in Not sind und denen Unrecht geschieht!“
Leider befinden wir uns nicht in einem ukrainischen Volksmärchen.
Der russische Angriff auf die Ukraine bringt der Zivilbevölkerung Tod, Zerstörung und Vertreibung. Familien werden auseinandergerissen und traumatisiert. Mütter und Kinder flüchten verzweifelt und unter Lebensgefahr vor dem Dauerbeschuss und dem drohenden Zusammenbruch der Energie-/Nahrungs- und Wasserversorgung. Sie müssen ihr Zuhause verlassen, Nächte in Kellern oder U-Bahnhöfen verbringen, Tausende von Kilometern in ein fremdes Land und eine ungewisse Zukunft fliehen und sorgen sich um ihre Männer und Väter, die zurückbleiben, um das Land und ihre Unabhängigkeit zu veteidigen.
Die bedrückenden, beängstigenden und wütend machenden Berichte vom Ukraine-Krieg sind allgegenwärtig und erreichen auch unsere Kinder. Das hat uns dazu bewogen, den Blick einmal auf die Volksmärchen zu lenken, mit denen die ukrainischen Kinder seit jeher groß werden. Die Beschäftigung mit diesen Märchen bietet hiesigen Eltern vielleicht die Möglichkeit, das Thema Ukraine gegenüber ihren Kindern auf anderem Wege, d. h. nicht unmittelbar auf den Krieg bezogen, anzusprechen und über die Märchen eine kulturelle Beziehung zu den ukrainischen Flüchtlingskindern, den zukünftigen Spielkameraden und Mitschülern, aufzubauen.
Wie jedes Land und jede Kultur, so hat auch die Ukraine ihre eigenen Märchenerzählungen, die vor ihrer Verschriftlichung jahrhundertelang mündlich überliefert und variiert wurden.
Zwar kommen dem Leser zahlreiche Situationen, Konflikte und Figuren bekannt vor, weil sie universell und daher auch Bestandteil Grimmscher Märchen sind: So erinnert die Lügenziege an „Tischlein-deck-dich“, Die weiße Rose ähnelt dem französischen „Tausendschönchen/Die Schöne und das Biest“, beim Goldenen Pantöffelchen denkt man an „Aschenputtel“ und bei Sirko an „Der alte Sultan“.
Dennoch besitzen die oben genannten ukrainischen Märchen trotz mancher Gemeinsamkeiten ganz eigene Merkmale, die sich aus der ukrainischen Kultur und Geschichte ergeben, und nehmen mitunter einen ganz anderen Verlauf. Man achte nur einmal darauf, wie sich der Hund Sirko bzw. Sultan seinem Helfer in der Not, dem Wolf, gegenüber verhält und wie unterschiedlich der Wolf in beiden Märchen charakterisiert ist.
Zudem gibt es Figuren, die so nur in den ukrainischen Märchen anzutreffen sind. Wer sich für die Entwicklung und die spezifischen Eigenheiten der ukrainischen Volksmärchen, z. B. die Stellung der Frau oder das Verhältnis von Gut und Böse interessiert, der findet in diesem Artikel erste Informationen.
Was die ukrainischen mit den Grimmschen Märchen in jedem Fall gemein haben: Kinder lieben sie! Sie entsprechen der ‚magischen Weltsicht‘ der Kinder und werden von diesen intuitiv verstanden. Sie sind spannend, abwechslungsreich, lustig, manchmal auch grausam, und enden fast immer positiv. Sie machen Mut, dass man trotz schlechter Ausgangslage mit Fleiß, Klugheit, Selbstvertrauen, Hilfsbereitschaft sowie einer guten Portion Glück und der Hilfe von Freunden und Gefährten seinen Weg schon machen wird. Sie stärken das Vertrauen darauf, dass am Ende die Gerechtigkeit siegt und alles gut sein wird, und lassen einen mit Zuversicht in die Zukunft blicken.
Ukrainische Kinder wissen, dass der unglückliche Danylo an Ende sein Glück findet und dass der arme Iwanko, der seine Eltern und sein Augenlicht verloren hat, wieder gesundet und letztlich die Königstochter heiratet (Die diamantene Mauer). Und ein Draufgänger wie Rollerbse, der Drachen bezwingt und der so stark ist, dass seine Keule, wenn er sie in die Luft wirft, erst nach zwölf Tagen wieder auf den Erdboden fällt – ja, der meistert sowieso jede Situation!
Wir wünschen und hoffen, dass die ukrainischen Kinder ihre Zuversicht nicht verlieren, dass sie beide Elternteile bald wieder in ihre Arme schließen können und dass der Krieg in ihrem Heimatland schnellstmöglich beendet wird. „Darauf kehrten sie alle froh nach Hause zurück und lebten glücklich und zufrieden“ – das wäre natürlich das schönste, das märchenhafteste Ende!
Anmerkung: Bei den verlinkten Märchentexten werden leider keine Angaben zu Quelle und Übersetzung gemacht. Literaturhinweise enthält aber der Artikel in den Ukrainer Nachrichten. Die Briefmarken zeigen folgende Motive: Das Küchlein/Pan Kotski/Das goldene Ei, Die Lügenziege, Sirko, Iwassyk-Telessyk und Rollerbse. Die Bildrechte liegen vermutlich bei der Ukrainischen Post.